3000 Personen hat die islamistische Terrorgruppe Boko Haram in den letzten vier Jahren in Nordnigeria umgebracht. Unter den Opfern waren vor allem Christen, moderate Muslime sowie Schüler und Studenten, ganz gemäss dem Namen der Sekte, der frei übersetzt «westliche Bildung ist Sünde» bedeutet. Man ist sprachlos ob so viel blinder Brutalität und fragt sich, was um Himmels willen Menschen, die sich selber als fromme Muslime sehen, dazu bringen kann, kaltblütig Kinder und Jugendliche zu töten. Es ist verständlich, dass sich manche Beobachter und Kommentatoren nicht anders zu helfen wissen, als zu Kategorien wie «Monster», «Wahnsinn» oder «das Böse» Zuflucht zu nehmen. Mit solchen Zuschreibungen schliesst man die Täter aus dem Bereich des Menschlichen aus, gibt es auf, soziale oder politische Erklärungen für solches Tun zu finden, schiebt die Ursachen entweder auf Individuelles («Scheusale») oder Anthropologisches («die menschliche Natur») und konstatiert resigniert, dass es halt einfach Unfassbares gebe.
Ressentiment des Nordens
Aber so schwer es uns fällt, das zu akzeptieren – Gut und Böse sind relative, gesellschaftsbedingte Zuschreibungen. Was hier als moralisch vorbildlich gilt, wird andernorts als verwerflich verschrien und umgekehrt. Das gilt sowohl für nationale Politik wie für persönliches Verhalten. Auch die brutalsten Verbrecher wissen ihr Tun vor sich und andern zu legitimieren, sosehr einem Aussenstehenden diese Beweggründe auch als blosse Alibis erscheinen. Zudem passieren auch Grausamkeiten nicht in einem luftleeren Raum. Sie werden ermöglicht oder motiviert durch spezifische Umstände.
Im Falle von Boko Haram spielt sicher die schlechte Regierungsführung Nigerias eine wichtige Rolle, die viele Junge in Arbeitslosigkeit und ohnmächtige Wut versinken lässt. Nun operiert Boko Haram allerdings im Spannungsfeld zwischen Norden und Süden, Islam und Christentum, Arm und Reich. Diese Gegensätze setzt die Gruppe ideologisch in eins, so dass nun auf einmal der arme Muslim aus dem Norden sich gegen den reichen Christen auflehnt, der im Norden nichts verloren hat und gefälligst in den Süden «zurückkehren» soll. Diese Gleichung ist insofern simplifizierend, als im Norden schon lange auch Christen leben, vor allem aber auch, weil die Frage der Verteilung von Macht und Geld nicht gar so eindeutig ist.
Zweierlei Sichtweisen
Es gibt in Nigeria im Prinzip zwei Lesarten dazu. Die «nördliche» Version besagt, der ölreiche Süden mit der Metropole Lagos bereichere sich hemmungslos auf Kosten des Nordens an den Bodenschätzen. Ein frappantes Indiz für diese Ungerechtigkeit ist aus dieser Sicht die Tatsache, dass das Land während 11 der vergangenen 14 Jahre von einem Präsidenten aus dem Süden regiert wurde, sowie die zunehmende Verarmung des Nordens. Die Durchmischung der Bevölkerung wird als «Invasion» und «Überschwemmung» des Nordens empfunden, die den traditionellen Lebensstil unterminiert. Die Einführung der Scharia in mehreren Gliedstaaten des Nordens wird als eine Art Notwehr gegen Überfremdung und zur Erhaltung der eigenen Identität interpretiert.
Aus der «südlichen» Perspektive sieht es anders aus. Es wird darauf hingewiesen, dass Nigeria seit seiner Unabhängigkeit 1960 bis zur Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1999 fast ausschliesslich von der (militärischen) Elite aus dem Norden regiert wurde. Als dieser Zirkel realisierte, dass das Machtmonopol nicht mehr aufrechterhalten werden konnte, erlaubten sie einem Vertreter des Südens ihrer Wahl, Olusegun Obasanjo, zwei Amtszeiten als Präsident. Im Jahr 2007 gewann dann Umaru Yar’Adua, ein Mann aus dem Norden, die Wahlen. Da er nach drei Jahren im Amt verstarb, übernahm für das verbleibende Jahr sein Stellvertreter Goodluck Jonathan die Regierungsgeschäfte, der dann 2011 auch ordentlich als Präsident gewählt wurde. Nach Ansicht des Nordens wäre bei den Wahlen im Februar 2015 nun endlich wieder ein Muslim aus dem Norden dran, aber Jonathan hat angekündigt, er wolle noch einmal kandidieren.
Sein grosser Herausforderer ist Muhammadu Bahari, der 2011 gegen Jonathan unterlag, in einigen nördlichen Gliedstaaten jedoch deutlich vorn lag. Es ist auffällig, dass er den Terror von Boko Haram – der erst 2009 so richtig begann – kein einziges Mal verurteilte, sondern der Regierung vorwarf, dass sie mit den Rebellen im Nigerdelta in Verhandlungen trat, während sie gegen Boko Haram mit Gewalt vorging und vorgeht. Tatsache ist allerdings auch, dass es sehr wohl Verhandlungsangebote gab, diese aber von Boko Haram umgehend ausgeschlagen wurden.
Tolerierter Terror
Immer wieder wird von Vertretern des Südens der Verdacht geäussert, dass der islamistische Terror von den Machthabern im Norden toleriert oder sogar gefördert und instrumentalisiert wird, um Druck auf Jonathan und seine Regierung auszuüben. Es ist auf jeden Fall auffällig, wie zurückhaltend die lokalen Sicherheitskräfte gegen Boko Haram vorgingen, bevor die nigerianische Armee im Mai ihre Offensive startete und inzwischen angeblich den Anführer Abubakar Shekau getötet hat, was aber umstritten bleibt. Es wäre nicht das erste Mal, dass er voreilig für tot erklärt wurde.
Die Armut des Nordens hat also nicht so sehr mit einer angeblichen politischen Vorherrschaft des Südens zu tun. Auch als die Regierungsmacht und die Kontrolle über die Ölressourcen in «nördlichen» Händen lagen, ging der grosse Teil der dortigen Bevölkerung leer aus. Umgekehrt nährte sich die Rebellion im Delta ja gerade vom Empfinden der dortigen Bewohner, die negativen Folgen der Ölförderung tragen zu müssen, ohne am Profit teilzuhaben. De facto geht es nicht um einen Verteilkampf zwischen muslimischem Norden und christlichem Süden, sondern zwischen Eliten und einer armen Mehrheit.
Mangelnde Bildung
Ob man die Lebenserwartung anschaut, das Tagesbudget, die Kinder- oder Müttersterblichkeit, überall schneidet das Land mit rund 170 Millionen Einwohnern miserabel ab. Auf dem Uno-Entwicklungsindex nimmt es den 156. Platz von insgesamt 187 Ländern ein, als achtgrösster Erdölexporteur der Welt! Das gilt auch für die Bildung. Ein Drittel der nigerianischen Kinder geht nicht zur Schule. Die Gliedstaaten Bornu, Yobe und Bauchi sind jene mit der grössten Zahl von Analphabeten und der höchsten Intensität von religiöser Gewalt. Entgegen der Ideologie von Boko Haram rührt das Elend in Nordnigeria nicht von zu viel moderner Bildung, sondern von zu wenig. Zudem führt der Terror zu einem Teufelskreis: Die Instabilität vertreibt Investoren und Gewerbetreibende, so dass weniger Geld für Soziales und Bildung zur Verfügung steht, was die Jugendlichen in die Arme von Fanatikern treibt, was die Gewalt wiederum erhöht.
Der Gründer von Boko Haram, Mohammed Yusuf, der selber nicht einmal über eine Grundschulbildung verfügte, ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie man aus der Not des Bildungsmangels eine Tugend machen kann. Im Prinzip verbrämte er seine etwas bornierten, konservativen Haussa-Überzeugungen als «islamisch» und machte aus seinen anti-modernen Ressentiments eine Ideologie, die lächerlich wäre, hätte sie nicht zu so viel Blutvergiessen geführt.
Wesentliche Punkte seiner «Bildungsoffensive» betreffen die Verteufelung von gemischten Klassen (die zu Prostitution führen), der Evolutionstheorie (eine anmassende Sünde), der runden Form der Erde (seiner Meinung nach flach) und der Meteorologie (Niederschläge seien das Werk der Engel). Zugespitzt könnte man sagen: Boko Haram kämpft mit Waffengewalt für die Verbreitung von Dummheit und Armut. Das sieht nach dem «absolut Bösen» aus. Aber ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Es ist nämlich gut möglich, dass der Terror verschwindet wie ein Spuk, sobald wieder ein Mann des Nordens die Staats- und Ölmacht in Nigeria übernommen hat.